Eine Pionierin der palliativen Betreuung: Karin Wilkening

vö. Sie kann einfach nicht anders. Wo immer Karin Wilkening referiert, kommt sie innert Kürze unweigerlich auf das Thema «Sterben und Tod» zu sprechen. So auch diese Woche in Zürich. An einer Tagung des Zentrums für Gerontologie ist die deutsche Palliative-Care-Pionierin der Bitte nachgekommen, über «produktives Engagement im Alter» zu referieren. Nach wenigen Einleitungssätzen warf sie die Frage in die Runde: «Kann auch ein dementer oder sterbender Mensch noch produktiv sein?» Natürlich ist er das, bis zum letzten Atemzug – sofern die ihn umsorgenden Angehörigen und Pflegenden sein Fühlen wahrnehmen, lautet ihre klare Antwort.
Der Tod des eigenen Sohnes als Auslöser
Obwohl sie sich als Professorin an der Fachhochschule Braunschweig und als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzt, will sie nicht als «Spezialistin für Sterben und Tod» gelten. «Es ist leichter, übers Sterben zu sprechen, wenn man selber noch nicht dran ist», hält die 60-jährige Psychologin fest. Und sie weiss: Wer selber mit einer Krebsdiagnose konfrontiert ist, wird ab diesem Moment anders über die verbleibende Lebenszeit sprechen als vorher. Zwar ist sie bis jetzt von einem solchen Perspektivenwechsel verschont geblieben. Doch hat sie ein anderes einschneidendes persönliches Erlebnis zum Thema geführt: Vor bald 30 Jahren ist ihr dreijähriger Sohn im Spital gestorben. Der Schock sitzt immer noch tief, und die Erinnerung ist weiterhin nah: das bange Warten auf der Intensivstation, auf der niemand die verzweifelten Eltern beachtete, die knappe Information des Arztes, das Bett mit der Leiche, das kurz danach auf den Gang geschoben wurde, und zehn Minuten später die Frage des Pflegepersonals: «Sind Sie jetzt fertig?»

Seither – und das ist mittlerweile ihr halbes Leben – setzt sich Karin Wilkening unermüdlich dafür ein, dass auch die mit dem Sterben einhergehenden Emotionen Raum erhalten und in den Institutionen eine entsprechende Gesprächskultur entsteht. Nach einem Aufenthalt in England, wo sie in den 1980er Jahren Hospize und Seminare für trauernde Menschen kennengelernt hatte, initiierte sie in Deutschland die ersten psychologischen Gesprächskreise für Verwitwete. Dank dieser Arbeit konnte sie ihre eigene Trauer bewältigen, wie sie rückblickend sagt. Die in England schon seit langem aktive Alzheimervereinigung gab ihr zudem den Impuls, sich für eine analoge Institution im eigenen Land einzusetzen. Dank ihrem Schwung konnte sie viele Menschen ins Boot holen; 1989 folgte die Gründung der deutschen Alzheimervereinigung.
Gefahr der Überreglementierung
Die mittlerweile mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Pionierin blieb lange eine treibende Kraft in der Hospizbewegung. Mittlerweile gibt es in Deutschland rund 130 Hospizinitiativen und zahlreiche Stützpunkte für Palliative Care, also Einrichtungen, die sich auf das «natürliche Sterben» spezialisieren, wie Karin Wilkening berichtet. Doch ist für sie schon länger klar, dass die einem kleinen Kreis vorbehaltenen Hospize als Aushängeschild nicht genügen und deren Grundidee Einzug in alle Alterspflege-Institutionen halten sollte. Ein solcher Bewusstseinsprozess, der die Grenzen der Spitzenmedizin nicht verdrängt, ist in den letzten Jahren europaweit in Gang gekommen. Palliative Care, die Behandlung und Pflege, die nicht Heilung, sondern umfassende Linderung zum Ziel hat, ist gerade auch in der Gerontologie ein Thema geworden.

Karin Wilkening konstatiert dies mit Freude. Gleichzeitig ist ihr, die ihr Wissen in der Freiwilligenarbeit, also als Leiterin von Trauerseminaren und Kursen für ehrenamtliche Sterbebegleiter, vertieft hat, eine solche «Spezialisierung» nicht ganz geheuer, und sie warnt vor einer sich in Deutschland abzeichnenden Überreglementierung: «Wir dürfen ja nicht von einem Extrem ins andere kippen.» Denn, so betont sie, ein behutsamer Umgang mit sterbenden und trauernden Menschen sei keine bloss technische, in einem Schnellkurs zu erwerbende Kompetenz. Dahinter stehe eine «Haltung», welche auch die spirituelle Ebene erkenne und eigene Erfahrungen mit reflektiere. Die Arbeit an dieser Haltung erachtet sie als eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe, die weit über die Qualifizierung von Fachkräften hinausgeht.

«Fortschrittliche» Schweiz
Ohne ihre Kontakte zur Schweiz wäre sie in Sachen Palliative Care nicht so weit gekommen. Als Schlüsselperson bezeichnet sie den Gerontologen Roland Kunz, der am Spital Limmattal eine Abteilung für Demente sowie eine Palliativstation initiiert hatte. Mit ihm zusammen hat sie ein Buch geschrieben. Dessen zentrale Botschaft: Sterben und Tod ist ein im Heimalltag präsentes Thema. Auch über Suizidgedanken soll offen gesprochen werden können. In diese Kultur passt ihres Erachtens der vor acht Jahren gefällte Beschluss der Stadt Zürich, der Sterbehilfeorganisation Exit assistierte Suizide in Altersheimen zu erlauben. «Auch diese Möglichkeit im Einzelfall zuzulassen, widerspiegelt den ehrlichen Umgang mit dem Thema», sagt sie. Diesbezüglich sei die Schweiz Deutschland weit voraus.

Quelle: NZZ
http://www.nzz.ch/nachrichten/zuerich/karin_wilkening__grenzgaengerin_in_sachen_sterbebegleitung_1.819324.html

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